Am letzten Augusttag startete Jörg Lenz im Berner Oberland beim diesjährigen Alpenbrevet. Nachdem die Veranstaltung im letzten Jahr noch wegen eines Wintereinbruchs abgesagt werden musste und auch in den Vorjahren immer wieder wetterbedingte Streckenverlegungen notwendig waren, fand die diesjährige Auflage bei idealen Bedingungen statt.
Jörgs Bericht:
Um mir die Option auf die Platinstrecke offen zu halten, hatte ich mich für den vorgezogenen Einzelstart zwischen 6:00 Uhr und 6:30 Uhr gemeldet, um gegenüber dem Massenstart der 2.400 Teilnehmer um 6:45 Uhr noch etwas Zeit zu gewinnen – schließlich war ich mir sehr unsicher, ob ich der langen Strecke gewachsen sein würde. So brach ich im Halbdunkel um kurz nach sechs Uhr in Meiringen auf, überwand mit einer kleinen Gruppe Einzelstartern den Anstieg zur Aareschlucht (mit 110 hm eigentlich höchstens eine Unebenheit im Asphalt) und nahm dann die Auffahrt zum Grimselpass (26 km, 1.530 hm) in Angriff. Die beeindruckende Landschaft wurde auf der Passhöhe von aufgehender Sonne und urtypischen Alphornbläsern gekrönt, die die Radfahrer an der Verpflegungsstation empfingen. (Zu der Zeit war ich allerdings schon von der Spitzengruppe der Silberfahrer eingeholt worden, die ca. 25 Minuten nach mir gestartet waren.)
Weiter ging's: Flaschen füllen, Taschen vollstopfen, winddichte Kleidung überziehen und in die Abfahrt nach Gletsch stürzen, am Abzeig der Silberstrecke (131 km über Grimsel-, Furka- und Sustenpass; 3.875 hm) vorbei nach Ulrichen und die Kleidung wieder ans Bergauffahren anpassen: Der Anstieg zum Nufenenpass, mit 2.478 m das Dach der Tour, hielt mit mehr als 1.100 Höhenmetern einige schweißtreibende und kräftezehrende Steilpassagen bereit. Egal – nur nicht übertreiben. Aber es zehrte doch schon ein wenig an den Nerven, von Horden von später auf die Strecke gegangenen Massenstartern leichtfüßig überholt zu werden. Und meine Zweifel, ob ich die Platinstrecke wirklich in Angriff nehmen sollte, wuchsen von Minute zu Minute – schließlich waren die Zeitlimits eng gesteckt und ich scheinbar etwas zu langsam unterwegs...
Auf dem Nufenenpass wiederholten sich die Abläufe vom Grimselpass; die anschließende Abfahrt über 23 km war mit einem Durchschnittstempo von über 50 km/h unerwartet schnell aber grandios und brachte mich bis Airolo wieder zurück in meinen Zeitplan. Abfahrtskleidung ausziehen, Verpflegung aufnehmen, ein letzter prüfender Blick auf die Uhr – und den Abzweig auf die Goldstrecke (172 km über Grimsel-, Nufenen-, Gotthard- und Sustenpass; 5.300 hm) ignorieren – schließlich sammelte sich gerade eine lose Gruppe vor mir, die auf den nun folgenden 37 km bis Biasca richtig Tempo machen würde. Und so war es auch – nach nur 44 Minuten war die nächste Kontrollstelle bereits erreicht und wir bogen ab in den Anstieg zum Lukmanierpass (1.971 m), mit 41 zwar eher sanft ansteigenden Kilometern der längste Anstieg des Tages und mit 1.700 hm auch nicht ganz ohne. Da wir mittlerweile die Mittagszeit erreicht hatten und im Tessin auf nur noch 300 Metern Höhe unterwegs waren, war von der Morgenkühle nichts mehr zu spüren; stattdessen hatte das Thermometer bereits 29°C erreicht und es wurde Zeit, wieder Höhe zu gewinnen, bevor die Hitze am Anstieg ihren Tribut fordern würde. Die Straße war herrlich einsam und wand sich durch tolle Nadelwälder bis zur Passhöhe. Es folgten die inzwischen routinierten Abläufe: Verpflegung, Kleidung, Abfahrt nach Disentis.
Der vierte Pass war der Oberalppass (2.044 m), der vermeintlich leichteste. Nicht allzu lang, nicht allzu steil und mit 930 hm nicht allzu viele Höhenmeter. Dachte ich zumindest. Wegen unangenehmer Fallwinde, die – je näher ich an die Passhöhe kam – immer kräftiger und kälter wurden, habe ich hier am meisten gelitten. Und Landschaftseindrücke machten zunehmend Leidenschaftseindrücken Platz. Auf der Passhöhe wieder das übliche Spiel, die Abfahrt über Andermatt nach Wassen und schließlich der letzte Anstieg zum Sustenpass (2.224 m). Die letzten 1.350 hm habe ich - wieder wachsenden Zeitdruck verspürend - wie in Trance abgespult und mich nur noch auf die 32 km lange Abfahrt nach Meiringen gefreut, auch wenn ich da noch einmal diese dämliche Bodenwelle wegtreten musste. Egal – mit der Euphorie, die Platinstrecke über 278 km und 7.031 Höhenmeter im Zeitlimit und bei Tageslicht geschafft zu haben, ging das sogar schon wieder ziemlich leicht. Lohn der Mühen über 12:54 Stunden: Platz 161 unter 324 Finishern. Und das Versprechen, wieder zu kommen. Dann aber bestimmtfür kürzere Runden...